„Tagesschau“ will gendern – aber nicht im Fernsehen

15.12.2022 um 18:16 Uhr
    Marcus Bornheim  | © NDR Marcus Bornheim ist seit Oktober 2019 Erster Chefredakteur von ARD-aktuell. | ©NDR

    Die „Tagesschau“ wird am 26. Dezember still und heimlich ihren 70. Geburtstag feiern. In der Sendung am zweiten Weihnachtstag wird das eigene Jubiläum keine Meldung wert sein.

    Das Jubiläum wird weder erwähnt noch gefeiert, erklärt "Tagesschau"-Chef Marcus Bornheim, gegenüber der HÖRZU. Der Grund: Zwar verkünde die "Tagesschau" Nachrichten, sei aber selbst keine. Der 48-jährige Journalist, der seit Oktober 2019 Erster Chefredakteur von ARD-aktuell ist, blickt lieber nach vorne und gibt im Interview Einblicke in bereits umgesetzte sowie weitere, notwendige Veränderungen bei den Nachrichten im Ersten. Beim Gendern soll es keine Veränderung geben: Bei Informationssendungen der ARD wird auch in Zukunft nicht gegendert, jedenfalls nicht im Fernsehen.

    Nach welchen Kriterien strukturieren Sie die 20 Uhr-„tagesschau“?

    Marcus Bornheim: Wir haben klare Relevanzkriterien: Was ist neu? Was ist nützlich? Und wie nahe ist ein Thema – Stichwort: „Nähe-Prinzip“ - räumlich oder emotional an unseren Zuschauern? Außerdem ist es wichtig, dass ein Thema einen allgemeinen Gesprächswert hat.

    Was kommt als Aufmacher in Frage?

    Themen, bei denen es eine neue Wendung in einer politischen Diskussion gibt – oder eine neue weltweite Entwicklung. Und klar, wenn sich etwas völlig Neues ereignet, über das in Deutschland diskutiert wird, dann muss das auch bei uns vorne in der Sendung stattfinden. Themen, die Aspekte fortschreiben, fallen hingegen eher in den hinteren Teil der Sendung.

    Planen Sie nach dem Jubiläum „70 Jahre ‚tagesschau‘“ am 2. Weihnachtstag sukzessive inhaltliche und/oder optische Veränderungen? 

    Nicht von heute auf morgen, aber wir verändern die „tagesschau“ schon seit längerer Zeit in homöopathischen Dosen. Dabei handelt es sich um minimale Kleinigkeiten, die eigentlich nur Hardcore-Fans bemerken.

    Bitte ein paar Beispiele …

    In letzter Zeit haben wir viel an der Sprache geändert - nun ist sie „sprechsprachlicher“ geworden. Konkret heißt das: Wir haben kürzere Sätze sowie weniger Substantive pro Meldung. Zweitens stellen unsere Sprecher seit einiger Zeit mitunter eine Nachfrage an die Korrespondenten. Drittens gibt’s neue Kameraeinstellungen: Manchmal sieht man um 20 Uhr die Sprecher komplett auf dem Bildschirm – etwa, wenn sie bei der sogenannten Position „C-seitlich“ - vor sich selbsterklärenden Hintergrundillustrationen stehen. Viele dieser minimalen Veränderungen haben wir vorsichtig dosiert, und es gibt sie auch nicht in jeder Ausgabe. 

    Und inhaltlich?

    Inhaltlich haben wir eine andere Themenauswahl. Nicht in jeder Sendung, aber ziemlich häufig, bringen wir beispielsweise in der 20-Uhr-Ausgabe mittlerweile ein Wissenschaftsstück oder ein Kulturthema – oder einen lösungsorientierten Ansatz zu einem zuvor dargestellten Problem. Denn neben Krisen, Krieg, Leid und Elend gibt es auch andere Aspekte im Leben, die für die Zuschauer wichtig sind. Außerdem möchten wir den Fernsehzuschauern, die laut Umfragen nachrichtenverdrossener geworden sind, mehr andere Perspektiven aufzeigen.

    Was sind die Vor- und Nachteile des „tagesschau“-Studios?

    Ein Vorteil ist, dass das Studio komplett automatisiert ist. Jede Kameraposition ist fest einprogrammiert, als Sprecher entwickelt man ein positiv-haptisches Gefühl für das Studio und unsere Beamer-Wand ist ganz toll. Ein Nachteil ist, dass das Studio langsam in die Jahre kommt und wir uns demnächst von unserer Beamer-Technologie verabschieden müssen, um zu LED überzugehen. Aktuell beginnen wir mit Überlegungen für die Planung eines neuen Studios und wie wir den Umbau umsetzen können, ohne den Sendebetrieb gleichzeitig für ein halbes Jahr einstellen zu müssen.

    Das rund 24 Millionen Euro teure Studio der "Tagesschau" feierte seine Premiere im Frühjahr 2014.

    Wie viele Zuschauer erreicht die Marke „tagesschau“ täglich zusammengerechnet über alle Distributionswege?

    Auf der Homepage gibt’s rund sechs Millionen Abrufe, auf Social Media etwa acht Millionen – plus zehn bis elf in der 20 Uhr-„tagesschau“ und nochmal zweieinhalb bis drei Millionen Zuschauer bei den „Tagesthemen“.

    Welche Vorgaben gibt es bei Ihnen in Bezug aufs Gendern?

    In Informationssendungen der ARD wird nicht gegendert. Wenn Schaltgäste in Live-Interviews das Gendersternchen mitsprechen, kann man dagegen natürlich nichts tun, aber unsere Moderatorinnen und Moderatoren sowie unsere Sprecherinnen und Sprecher tun das nicht. Im Socialmedia-Bereich ist das anders, weil wir dort über eine andere Generation als Zielgruppe reden.

    Stichwort 70. Geburtstag: Ihr größter Fehler in den zurückliegenden sieben Dekaden?

    Während der Coronajahre hatten wir die erfolgreichsten Jahre in der 70-jährigen Geschichte der „tagesschau“. So hoch wie damals war die Quote noch nie. Dennoch würde ich selbstkritisch einräumen, dass wir damals zu oft monothematisch über Corona berichtet haben, statt den Zuschauern einen Überblick über die Nachrichtenlage in der ganzen Welt zu geben.

    Und was macht Sie als Erster Chefredakteur stolz?

    Dass wir immer noch die deutsche Nachrichteninstitution Nummer Eins sind – und dass viele Meinungsumfragen, unter anderem von Reuters, bestätigen, dass die „tagesschau“ die Marke ist, der die Deutschen am meisten vertrauen. Dieses Vertrauen ist das wertvollste Gut, das wir haben.