Die Professorin und Schriftstellerin Rama (Kayije Kagame) ist nach Saint Omer gereist, um einem Prozess am Gericht beizuwohnen. Behandelt wird der Fall einer jungen Frau, die ihr 18 Monate altes Kind ertränkt hat. Rama will den Prozess nutzen, um Inspiration für ihr neues Buch zu bekommen, in dem es um den Medea-Mythos geht. Laurence (Guslagie Malanda) sitzt auf der Anklagebank. Die junge Frau ist für ihr Studium aus dem Senegal nach Frankreich gekommen. Verloren in dem fremden Land suchte sie Zuflucht in einer Beziehung zu einem älteren Franzosen, dem Vater ihres Kindes. Die Tat hat sie begangen, doch auf die Frage der Richterin (Valérie Dréville), warum sie ihrer Tochter das Leben nehmen wollte, sagt Laurence, das wisse sie nicht und hoffe, der Prozess möge es ihr erklären. Für Rama ist das Verdikt über Laurence eigentlich klar: Die Frau ist schuldig. Doch im Laufe der Verhandlung gerät ihre Gewissheit ins Wanken. In Laurence bündeln sich Ängste, die auch Rama kennt als Tochter einer aus dem Senegal eingewanderten, von täglichem Rassismus geprägten Mutter. Zudem ist Rama schwanger, wird also selbst bald Mutter sein. Mit "Saint Omer" gab die vielfach ausgezeichnete Dokumentarfilmerin Alice Diop ihr Spielfilmdebüt. Ihre Wurzeln im Dokumentarfilm sind zu spüren, nicht nur, weil Diop einen realen Mordfall als Vorlage nimmt, sondern auch stilistisch: Die Aufnahmen im Gerichtssaal sind nüchtern und realistisch gehalten. Das Fiktionale entsteht auf der Ebene der beiden Frauenfiguren. Geschickt spiegelt Diop die Schicksale zweier gegensätzlicher Migrantinnen. Die eine trägt die Migration zwar als Erbe mit sich, ist als Professorin aber in der französischen Gesellschaft mehrheitlich angekommen. Die andere versucht den Einstieg, scheitert aber. Auf einer übergeordneten Ebene geht Diop in ihrem Film universellen Fragen nach über Mutterschaft, Vorurteile und nicht zuletzt dem kaum hinterfragten Erbe der Kolonialzeit.