Geräusche, Gerüche, Geschmäcker: Täglich sind wir einer Vielzahl von Reizen ausgesetzt. Hochsensible Menschen nehmen diese sogar noch viel intensiv wahr. Fluch und Segen zugleich. Wenn auch du von dieser besonderen Sensibilität betroffen bist, könnten dir unsere Tipps für einen reizarmen Alltag vielleicht helfen.
Um ihre Fähigkeit, das Leben mit allen Sinnen wahrzunehmen, könnte man Hochsensible beneiden. Die vermeintliche Superkraft bezieht sich allerdings nicht nur auf positive Eindrücke und Empfindungen. Auch Schmerz, Lärm oder Gestank erleben Betroffene stärker, wodurch Alltagssituationen schnell zu Belastungsproben werden. Was gegen die Überreizung hilft und wie sich Hochsensibilität testen lässt, erklärt Psychologin Dr. Hanne Horvath:
Dr. Hanne Horvath: Hochsensibilität kann man gut mit einem Lautstärkeregler der Sinnesreize beschreiben. Bei den meisten Menschen ist er aufgedreht, aber nicht bis zum Anschlag. In genau diesem Bereich nehmen jedoch hochsensible Menschen wahr - und zwar alle Sinnesreize: Licht, Lärm, Gerüche und Geschmäcker sowie Stimmungen. Dadurch kann es zu einer Überstimulation kommen. Betroffene fühlen sich dann gestresst, erschöpft und überfordert. Das kann sich negativ auf das körperliche Empfinden auswirken. Sie reagieren mit Kopfschmerzen, Verspannungen, Magen-Darm-Beschwerden und Schlafstörungen. Auch emotional können sich Betroffene von den intensiven Sinneseindrücken belastet fühlen. Oft äußert sich das in Form von Angst oder Traurigkeit. Deshalb lohnt es sich, genauer hinzuschauen, falls einem diese Symptome bekannt vorkommen.
Horvath: Grundsätzlich bezieht sich Hochsensibilität auf alle wahrnehmbaren Reize. Diese lassen sich in drei Kategorien einteilen: Zunächst die sensorischen Reize, darunter fallen Lärm-, Geruchs-, Licht-, Schmerz- und Geschmacksempfindlichkeit. Dann gibt es die emotionalen Reize, die hochsensible Menschen überdeutlich wahrnehmen. Das bedeutet, dass sie die Mimik, Gestik, Körperhaltung und den Tonfall ihres Gegenübers genau bemerken und verarbeiten. Ebenso deutlich nehmen sie ihre eigenen Gedanken, Empfindungen und Stimmungsschwankungen wahr. Dann gibt es noch die kognitive Hochsensibilität. Darunter fällt die Fähigkeit, komplexe Zusammenhänge sehr gut analysieren und verstehen zu können.
Je nach Person ist die Empfindung in einer der genannten Kategorien im Vergleich zu den anderen besonders stark ausgeprägt. Hier liegt dann der Schwerpunkt der Hochsensibilität. Typisch für alle Betroffenen ist das häufige Gefühl der Überreizung infolge der verstärkten Wahrnehmung und der Versuch, dieser aus dem Weg zu gehen. Meistens äußert sich durch ein Vermeiden bestimmter Alltagssituationen, die als unangenehm empfunden werden. Insbesondere der soziale Rückzug ist ein Merkmal.
Horvath: Nein, es ist keine Erkrankung, sondern eher eine persönliche Eigenschaft. Das Konzept hat die amerikanische Psychologin Elaine N. Aron entwickelt. Im Rahmen ihrer Forschungsarbeit beschrieb sie das Phänomen in den Neunzigerjahren erstmals und machte es durch ein Buch bekannt. Wissenschaftlich ist das Konzept jedoch nicht ganz unumstritten. Manche Experten und Expertinnen bemängeln die fehlende Abgrenzung zu anderen Persönlichkeitsmerkmalen. Einig sind sich die meisten Forschenden allerdings darin, dass es Menschen gibt, die sensibler auf Reize reagieren und deshalb schneller an einer Reizüberflutung leiden als andere.
Horvath: Nicht in dem Sinne einer Diagnose, da es sich ja nicht um eine psychische oder physische Erkrankung handelt. Aber es gibt spezielle Fragebögen und Tests, mit denen man die eigene Hochsensibilität selbst einschätzen kann. Grundlage dafür ist der von Elaine N. Aron entwickelte HSP-Test (HSP steht für highly sensitive person), der bis heute für jede/n frei zugänglich ist. Nur empfehle ich bei großem Leidensdruck nicht nur den Test zu machen, sondern zusätzlich das Gespräch mit einer Therapeutin, einem Therapeuten oder Coach zu suchen. Ohne gute Strategien damit umzugehen, kann Hochsensibilität sonst ein Burnout begünstigen oder depressive Phasen verstärken.
Horvath: Es gibt verschiedene Schätzungen. Je nach Studie sind 10 bis 30 Prozent der Menschen hochsensibel. Einige Forschende sowie Psychologen und Psychologinnen gehen davon aus, dass sich manche Menschen als hochsensibel einschätzen, obwohl sie es gar nicht sind. Einfach weil sie den Begriff oft gehört haben und dieser ein erhöhtes Stresslevel gut erklärt. Das mag sein. Entscheidender finde ich aber, dass das Konzept vielen Menschen hilft, sich besser zu verstehen und auf die eigenen Bedürfnisse zu achten. Ich würde sagen, das ist sogar bei einer deutlichen Mehrheit der Fall.
Horvath: Auch hier gibt es noch keine wissenschaftlich eindeutigen Erkenntnisse. Viele Forschende, darunter auch die Pionierin Elaine N. Aron, gehen davon aus, dass sensorische Hochsensibilität angeboren ist und sich schon im Kindesalter zeigt. Das bedeutet, dass manche Babys besonders stark auf ihre Umwelt reagieren und entsprechend öfter von Reizen überflutet werden. Andere Forschende meinen, dass Hochsensibilität eine im Lauf des Lebens erworbene Eigenschaft ist, die sich aufgrund einer bestimmten Sozialisation entwickelt hat.
Horvath: Nein, und das ist auch gar kein sinnvolles Ziel. Es geht eher darum, individuell herauszufinden, ob und auf was eine Person hochsensibel reagiert, um Strategien für einen besseren Umgang damit zu finden. Meistens geht es darum, die eigenen Grenzen wahrzunehmen und für sie einzustehen. Vielen Menschen, die sich als hochsensibel einschätzen, fällt das zu Beginn schwer. Das ist verständlich. Schließlich wollen wir nicht komisch oder anders sein. Eines der größten menschlichen Bedürfnisse ist, von anderen akzeptiert zu werden und dazuzugehören. Diesen Wunsch dürfen wir uns aber auch selbst erfüllen. Deshalb ist es so wichtig, dass wir uns mit unseren Eigenschaften annehmen.
Was dabei hilft, ist ein anderer Blick auf die Hochsensibilität. Die Entwicklungspsychologin Francesca Lionetti beispielsweise schlägt für hochsensible Menschen die Metapher Orchidee vor, für mittlere Sensibilität die Tulpe und für niedrige Sensibilität den Löwenzahn. Bei diesem Bild wird sofort klar, dass keine Pflanze krank oder nicht normal ist, sondern einfach anders und entsprechend einen anderen Boden und eine andere Menge an Wasser und Licht braucht, um optimal zu wachsen. So könnte man die eigene Hochsensibilität begreifen. Es geht darum herauszufinden, wer man ist und was man braucht, um sich dann die optimalen Lebensbedingungen zu schaffen.
Da viele hochsensible Menschen an Burnout erkranken, kann eine Therapie hilfreich sein. Die ist inzwischen auch online verfügbar, kostenfrei auf Rezept und ohne Wartezeit. Von HelloBetter gibt es beispielsweise den wissenschaftlich geprüften Online-Therapiekurs "Stress und Burnout". Innerhalb von zwölf Wochen lernt man, seine persönlichen Stressfaktoren wahrzunehmen und zu senken sowie besser mit Problemen umzugehen.
Horvath: Es gibt viele hilfreiche Strategien. Wenn ich weiß, dass ich auf bestimmte Reize hochsensibel reagiere, kann ich mich darauf einstellen und mich aktiv dabei unterstützen, sie besser zu verarbeiten, beispielsweise durch eine ganz bewusste Bauchatmung. Das beruhigt unser Nervensystem. Deshalb sind auch andere Entspannungstechniken wie Yoga oder Meditation empfehlenswert, um den durch Überreizung hohen Stresspegel zu senken. Bei diesen Strategien geht es um bewusste Regulierung und Verarbeitung der Reize, nicht um Vermeidung. Aber auch das kann in Maßen hilfreich sein. Wenn ich als hochsensible Person feststelle, dass mich eine Fahrt mit der U-Bahn zu viele Nerven kostet, dann lieber Radfahren. Wenn ich merke, dass es in einem Großraumbüro unerträglich ist, dann lieber ins Homeoffice. Natürlich sind solche Veränderungen nicht immer möglich, manchmal braucht es ein bisschen Kreativität. Gut, dass hochsensible Menschen viel davon haben.
Horvath: Das ist eine gute Frage. Ich würde sagen, es ist beides. Hochsensible Menschen nehmen das Leben intensiv wahr, haben ein tiefes Gefühlsempfinden und eine hohe Empathiefähigkeit. Deshalb könnte man auch sagen, dass sie sozial hochbegabt sind. In künstlerischen, therapeutischen oder sozialen Berufen sind sie demnach sogar im Vorteil. Aber auch hochsensible Menschen, die nicht in einem dieser Berufe arbeiten, können von ihrer besonderen Fähigkeit profitieren. Ihre empathische Art macht sie zu beliebten (Gesprächs-)Partnern und Freunden. Auf der anderen Seite ist es wichtig zu wissen, dass diese Fähigkeit in einem ungünstigen Umfeld zu einer großen Belastung werden kann, weshalb hochsensible Menschen häufiger unter psychischen Störungen wie Burnout leiden. Bleiben wir mal beim Bild der Orchidee: Wenn ich diese Pflanze übergieße oder ständig an andere Plätze stelle, wird sie das nicht so gut verkraften wie ein Farn.
Horvath: Wichtig finde ich, Sätze wie "Jetzt stell dich mal nicht so an" oder "Leg dir mal ein dickeres Fell zu" ersatzlos zu streichen. Solche Kommentare sind verletzend und überhaupt nicht hilfreich. Natürlich kann es anstrengend sein, wenn ein Familienmitglied hochsensibel ist, aber es gibt bessere Strategien damit umzugehen. Akzeptanz ist die wichtigste Grundlage für ein angenehmeres Miteinander. Andere Personen nehmen Situationen eben anders wahr. Da gibt es kein Richtig oder Falsch. Entsprechend unterschiedlich sind die Bedürfnisse und es ist wichtig, dass jede/r genug Raum hat, sich diese zu erfüllen. Hochsensible Menschen kann man am besten unterstützen, indem man sie manchmal einfach in Ruhe lässt, also ihren sozialen Rückzug auf Zeit akzeptiert.