„Expeditionen ins Tierreich“: Vor 60 Jahren brachte Heinz Sielmann die Wildnis ins Wohnzimmer

30.04.2025 um 17:00 Uhr
    Tierfilmer Heinz Sielmann mit einer Meeresschildkröte bei Entdeckungen im Korallenmeer 1965. | © Imago
    Tierfilmer Heinz Sielmann mit einer Meeresschildkröte bei Entdeckungen im Korallenmeer 1965. | ©Imago

    Fernsehpionier, Tierschützer und Weltreisender: Eine neue NDR-Doku zweigt, wie Heinz Sielmann die Natur auf unsere Bildschirme brachte.

    Ein Artikel von HÖRZU Reporter Kai Riedemann

    Am Sonntag, 18. April 1965, um 20.05 Uhr begann ein neues Zeitalter des Naturfilms. Unter dem Titel „Expeditionen ins Tierreich“ strahlte der NDR die erste Folge einer Reihe aus, die bis heute Zuschauer in ihren Bann zieht. Heinz Sielmann präsentierte das „Vogelwunder Australiens“ und brachte so die Wildnis ins Wohnzimmer. Die HÖRZU schwärmte damals in einer Kritik: „Das Verblüffendste der Woche, das Niedagewesene an Aufnahmen kam freilich weder aus der Politik noch vom Kinofilm oder vom Fernsehspiel. Das hat Heinz Sielmann heimgebracht. Hätten wir einen Oscar für Darsteller zu vergeben, kriegten ihn ein Känguru und ein Brutschrankvogel.“ 60 Jahre später blickt eine Jubiläumsdokumentation (Mi, 30. April, 20.15 Uhr im NDR und in der Mediathek)auf die Sternstunden der Reihe zurück und zeigt Tierfilmer von gestern und heute bei der Arbeit.

    Von Schnepfen und Spechten

    Heinz Sielmann (1917 – 2006) prägte nicht nur „Expeditionen ins Tierreich“, sondern die Geschichte des gesamten deutschen Naturfilms. Schon im Jahr 1938 erregte der Jungregisseur Aufsehen mit seinem Erstling „Vögel über Haff und Wiesen“. Dafür kauerte er oft 24 Stunden lang in seinem Versteck, einem getarnten Boot, gequält von Krämpfen, die Kamera auf scheue Uferschnepfen gerichtet. In „Zimmerleute des Waldes“ zeigte Heinz Sielmann 1954 einzigartige Einblicke in die Brutstätte der Spechte. Um ganz nah filmen zu können, wie die Vögel unter der Baumrinde Insekten erhaschen, gewöhnte seine Frau Inge Jungvögel an den Menschen. Rund um die Uhr versorgte sie die gierigen Spechtkinder mit Würmern. Für den perfekten Höhleneinblick wurde ein Baum aufgebrochen, die Öffnung mit einer Glasscheibe versehen und ein Teerpappedach zum Schutz vor Licht- und Wettereinflüssen errichtet.

    Ein Leben für die Bilder – in Bildern. Schon früh entdeckte Heinz Sielmann sein Interesse für die Tiere und das Filmen. Seine „Expedition ins Tierreich“ brachte die Natur ganzen Generationen nahe. Sielmann, hier mit seiner Ehefrau Inge, starb 2006. | ©Sielmann Stiftung

    In England bekam er für diesen Film den Spitznamen „Mr. Woodpecker“. Es war noch Pionierarbeit, aber erfolgreiche Pionierarbeit. 1956 drehte Sielmann erste Beiträge in Zusammenarbeit mit dem NDR, am 6. März 1960 strahlte sein „Haussender“ den Klassiker „Das Jahr der Störche“ aus. „Expeditionen ins Tierreich“ war dann seine erste eigene Reihe, bei der er auch vor die Kamera trat. „Heinz Sielmann hat als Erster in Deutschland als Tierfilmer moderiert und so das Genre enorm popularisiert“, erklärt Jörn Röver, der seit fast 25 Jahren Chef von NDR Naturfilm ist und Heinz Sielmann auch noch persönlich kannte. „Er hatte dabei hohe Ansprüche, die einen sehr großen Etat erforderten. Jede Reise in ferne Länder zu einer Zeit, als Massentourismus noch nicht existierte, war aufwendig wie eine Polarexpedition.“

    Von Fasanen und Fischottern

    Die Dreharbeiten führten Sielmann rund um die Welt, zu Pelzrobben in der Beringsee, Berggorillas in Ruanda, Glanzfasanen auf dem Annapurna-Massiv in Nepal und zu Fischottern, seinen Lieblingstieren. Die Zuschauer begleiteten ihn am Bildschirm bei diesen Reisen. „In den 60er- und auch noch den 70er-Jahren war die Welt ein großes Abenteuer und jenseits der Grenzen Europas voller wilder Tiere, so nahm man es zumindest wahr“, erinnert Jörn Röver an die Anfangsjahre. „Ein Tierfilmer erklärte einem damals Dinge, die jenseits der eigenen Vorstellungskraft lagen, und so waren Tierfilme im Fernsehen die großen Welterklärer und spannend zu verfolgen wie ein Abenteuerroman.“ Der Aufwand war so enorm, dass Sielmann nur wenige Filme im Jahr liefern konnte. Die Fans forderten mehr.

    „In den 70er-Jahren hatte sich das Interesse für Tiersendungen bei den Zuschauern in Deutschland derart vermehrt, dass sich der NDR dafür einsetzte, meine Fernsehreihe ‚Expeditionen ins Tierreich‘ künftig sechsmal im Jahr in der besten Sendezeit von 20.15 Uhr zu zeigen“, erinnerte sich der Naturfilmpionier später. „Durch meinen Zugang zu den Filmen des BBC, der National Geographic Society und anderen Produktionsfirmen fiel es uns nicht schwer, das erforderliche Pensum zu leisten."

    Von Elefanten und Gorillas

    Spektakuläre Filme drehte Sielmann trotzdem weiter. Stets neugierig, interessierten ihn vor allem die unentdeckten Winkel der Erde. Gefahrlos war diese Entdeckerlust nicht: Als er 1983 mit HÖRZU-Redakteur Roland Westphal im Masai-Mara-Naturreservat unterwegs war, riskierte der Tierfilmer für Bilder fressender Elefanten sogar sein Leben. Eine Elefantenkuh donnerte in Staub gehüllt auf den Störenfried zu. In letzter Sekunde erreichte Sielmann den rettenden Geländewagen. Bei anderen Dreharbeiten brach plötzlich ein Berggorilla aus dem Dickicht. „Ein Vier-Zentner Kerl“, kommentierte Heinz Sielmann. „Er trommelte sich auf die Brust, riss sein mächtiges Maul auf, raste auf mich zu.“ Auch damals gelang ihm nur knapp die Flucht. Trotz aller Abenteuerfreude gehörten Besonnenheit und Geduld zu den Stärken des Tierfilmers.

    Im Jahr 1966 brach Sielmann nach Nordamerika auf. 19 Monate filmte er etwa Schneegänse in der Tundra. | ©Sielmann Stiftung

    Die Kameratechnik steckte damals noch in den Kinderschuhen. Der Markt bot kaum mehr als eine Kamera und ein Stativ. Als Heinz Sielmann zu drehen begann, musste er sich große Teile seiner Ausrüstung selbst zusammenbasteln. „Die Technik und die damit verbundenen Möglichkeiten haben sich komplett verändert“, betont Jörn Röver. „War man anfangs mit teuren Filmrollen zeitlich und lichttechnisch enorm eingeschränkt, ist heute so gut wie alles möglich: Drehen bei Nacht, auf Augenhöhe der Tiere schwebend, im Inneren eines Baus. So bekommt man eine enorme Nähe zu den Tieren und kann abgeschlossene Geschichten erzählen, die damals nur in Gehegen möglich waren.“ Heutzutage ziehen Naturfilmer mit 300 Kilo Gepäck auf ihre Expeditionen, filmen mit Kränen, Drohnen und Superzeitlupenkameras. Jeder technische Fortschritt ermöglicht eine ganz neue Art von Bildern.

    Von weiter Welt und Heimat

    Bis 1991 entstanden rund 150 Ausgaben von „Expeditionen ins Tierreich“ mit Heinz Sielmann. Seitdem sind seine „Erben“ dran – mal mit aufwendigen teuren Koproduktionen, die weltweit laufen, mal mit Filmen, die unbekannte Seiten unserer Heimat zeigen. Beides hat in der NDR-Reihe eine Zukunft. „Schon immer haben die ganz teuren und die eher kleinen Tierfilme gut nebeneinander existiert“, stellt Röver klar. „Die Welt interessiert sich nur bedingt für die Natur der Nordseeinseln oder des Braunschweiger Landes. Hier kann man auch fantastische Tierbeobachtungen machen, die viele Zuschauer interessieren. Es muss also nicht immer die Löwenjagd aus sieben Kameraperspektiven sein.“ Mit Heinz Sielmann hat alles begonnen. Die Jubiläumsdoku zu „Expeditionen ins Tierreich“ erinnert daran und zeigt auch den jüngeren Generationen, was den Tierfilmer und seine Arbeit so faszinierend machte: Glaubhaft, eindringlich, mit markanter Stimme und wasserhellem Blick nahm er die „lieben Zuschauer“ mit auf seine filmische Arche Noah.

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